Der weibliche Körper als Schauobjekt
Langsam dreht sich der fragile Körper um die eigene Achse. Das Kleid knittert, die Nähte verziehen sich. Der Stoff wird zwischen Auflage und Körpergewicht gequetscht. Durch die Aufwärtsdrehung wird er vom Pressdruck des Körpergewichts wieder befreit. Der Vorgang wiederholt sich. Durch die Wiederholung beginnt sich der Stoff, die Hülle, wie ein Zopf einzudrehen, zwingt die schlanke Figur in immer engere Verhältnisse. Maria Hahnenkamp hat eine Frau in blutrotem Kleid auf ein gläsernes Bett gelegt. Die Drehbewegung wird von unten gefilmt. Fotografien sind dem Video als Stills entnommen. Der Stoff selbst ist mit einer weißen Naht in floralem Muster bestickt. Die Bewegung der Frau, deren Gesicht nie erscheint, wirkt wie während der Unruhe einer schlaflosen Nacht, zugleich erinnert der erkennbare Takt an eine Walze, wie sie zum maschinellen Bügeln verwendet wird, jedoch wird das Gerät hier zweckentfremdet nicht zum Glätten, sondern als Strapaznachweis eingesetzt. Hahnenkamp lehrt uns, den weiblichen Körper im Drehmoment als Schauobjekt zu identifizieren, noch mehr aber, die subtilen Wirkungen sinnlicher Erfahrung zu verstehen.
Das Sehen, so wissen wir, verändert nicht das Gesehene. Anders steht es mit dem Ertasten und Berühren. In der Berührung, das heißt im Wahrgenommen-werden, verändert sich das Wahrgenommene. Indem ich etwas be-rühre, bewege und bewirke ich etwas. Unter dem Druck verändert sich die Oberflächengestalt und die Temperatur des betasteten Gegenstands. Der Faltenwurf, der in Mode und Kunstgeschichte so lange als Inbegriff von Stil und hoher Kunstfertigkeit gilt, ist in diesem Werk hinterfragt. Er ist Kennmerkmal von Schönheit, Ornament oder Lineatur, zeigt aber auch Anzeichen von Drangsal und Tortur. Der Eindruck, die Im-pression, ist keine künstlerische Qualität, in der es darum geht, die Wirklichkeit zu bebildern, sondern vielmehr Sinnbild der Befindlichkeit, mit der das Leibsein als solches erkundet wird. Sinnesreize, die den Körper berühren, sind keine Daten, die man registriert, entziffert oder nach Bedarf abruft. Sinnliche Eindrücke drängen sich auf und prägen sich ein. In einem Video mit dem selben Thema hat Hahnenkamp durchsichtige Folien Rund um Rumpf gelegt („V5/08“). Auf ihnen sind Textzitate von Judith Butler zu lesen. Die Frau dreht die Schriftbänder wie eine Schlinge um sich zu und in einer Gegenbewegung wieder auf. Die Textzeilen sind fragmentiert und kommentieren dennoch selbstbezüglich das Geschehen. Es wird deutlich, dass es nicht nur um persönliches Empfinden, sondern auch um den sozialen Körper geht, vor allem den weiblichen, seine Formung durch Zuschreibung und Internalisierung. Indem die Drehung als fortwährendes Ereignis von Zwang und Befreiung, von Dichte und Lösung, von Drang und Freiheit zeigt, erinnert sie uns an dieses Kräftemessen des sensorischen Befindens im sozialen Feld. Ein solches Kräftespiel erklärt nicht vorrangig, dass etwas als etwas auftritt, sondern dass und wie es auftritt. Mit welchem Nachdruck. Hahnenkamp zeigt die Druckwirkung festgehalten im Medium der Fotografie. Die Qualitäten des Glatten, Rauhen, Körnigen, Quälenden erscheinen eingetragen in die Materie des fotografischen Bildes. Denn das Foto ist zwar nicht wie der Mensch zum Leiden befähigt, aber dennoch mit Eindrücken und physischen Wirkungen beschrieben, im Innersten durch Licht und chemische Reaktion imprägniert. Um diesen Vorgang anzudeuten, werden die Bilder in einer ähnlichen Bildserie an der Oberfläche verletzt. Wie ein florales Tatoo ist das kirchliche Ornament in seine Haut gefräst („Cut-Out“). Hahnenkamp hat die oberste Fotoschicht gleichsam weggerissen. Darunter kommt der Papierträger zum Vorschein, der normalerweise nicht zu sehen ist. Sie wolle damit zeigen, sagt die Künstlerin, die selbst niemals fotografiert, sondern stets Fachkundige für ihre Werkideen beauftragt, dass die Fotoillusion hauchdünn ist. Wir schenken ihrer realistischen Bildillusion trotz besseren Wissens immer wieder Glauben. Durch den „Aufriss“ wird das Bild zum Stellvertreter von Haut. Das Foto erscheint selbst – als flacher Körper – als Träger von Empfinden und Eindruck. Der Bezug zur sozialen Formung wird hierdurch noch deutlicher. Butler spricht in ihren Texten davon, dass der Körper eine von »Zwang durchdrungene Materie« sei. Zugleich vertraut sie darauf, dass er sich den »Normen der Wiederholung« niemals vollständig fügen wird. Der Körper selbst kann den befreienden Widerstand leisten. Seine Impression wird ihm zum Erleben, Gedächtnis und Geschichte.
Thomas D. Trummer
Publiziert in: EIKON – Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Heft #78, 05/2012
Thomas D. Trummer ist seit 2015 Direktor des Kunsthaus Bregenz (KUB), davor war er Künstlerischer Leiter der Kunsthalle Mainz (2012–2015) und Projektleiter für bildende Kunst beim Siemens Arts Program in München (2007–2012 ). Er war Visiting Scholar am Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, USA (2010–2011) und Hall Curatorial Fellow am Aldrich Museum of Contemporary Art, Ridgefield, USA (2006–2007). Zuvor war er als Kurator für moderne und zeitgenössische Kunst am Belvedere Wien und als Gastkurator am Grazer Kunstverein tätig.