Textauszug aus "Bilder und Abbilder"

Auf leeren Wandflächen erscheinen Bilder, um nach wenigen Augenblicken den nächsten Aufnahmen zu weichen. Sichtbar wird darüber die Flüchtigkeit wie auch die Dauerhaftigkeit der Photographie: Sie hält Ephemeres ephemer fest, sie registriert Erscheinungen und Bewegungen, die in ihren spezifischen Konstellationen zwar unwiederholbar vergangen sind, aufgenommen aber vergleichbar und vor dem endgültigen Tod durch Vergessen wenigstens als Abbilder zeitweise gesichert bleiben. "Sah so die Großmutter aus? ... Am Ende ist auf der Fotografie gar nicht (sie) wiedergegeben, sondern ihre Freundin, der sie glich."1 So jedenfalls sah Marilyn Monroe aus, ihr Name untrennbar verknüpft mit dem vor allem durch die Photographie zur Ikone gewordenen Bild einer blonden Frau. Und so sehr alle Aufnahmen verraten, dass die Präsenz der Kamera der Akteurin bewusst ist und sie deswegen posiert, so sind diese gleichzeitig Spuren heute zuweilen nicht mehr vertrauten, sicher aber lesbaren Praxen: Die Moden der 50er und 60er Jahre erfahren heute ihre Aktualisierung in Revivals, manche Gesten aber dürften älter und dauerhafter sein und von der Photographie nicht produziert, wohl aber vermittelt worden sein: Den Aufnahmen Monroes stellt Maria Hahnenkamp die offenbar ungefähr zeitgleich entstandenen Amateurphotographien einer dunkelhaarigen unbekannten Frau gegenüber („Diaprojektion 3“, 2002, überlappende Doppelprojektion). Doch während die Aufnahmen der Schauspielerin unzählbar häufig reproduziert zur Ikone wurden und werden, sind die Bilder von ihrem Gegenüber nur zufällig dem Sperrmüll entkommen. Paarweise zusammengestellt betonen die Dias kontingente und unwillkürliche Übereinstimmungen, von der Zigarette in der mondän abgewinkelten Hand bis zum Muttermal über dem meist lächelnden Mund: die beiden Frauen beginnen sich anzugleichen wie Kracauers Grossmutter ihrer Freundin, ohne dass dabei die eine als Vor-, die andere als Nachbild erscheint, was an einem Bildpaar vollends deutlich wird: Hier ist die Monroe an der Seite einer anderen dunkelhaarigen Schauspielerin, die unbekannte Frau neben einer blonden Freundin so aufgenommen worden, dass die Szenen austauschbar werden. Einander an den Rändern überschneidend gehen die Doppelprojektionen gleichmässig ineinander über, während Einzelprojektionen beiden Frauen den gleichen Status verleihen: als Subjekte und als Objekte der Photographie.

Hat diese Diaserie allem von der Kamera induzierten Posierens zum Trotz noch den Charme des Schnappschusses, verlieren sich die Spuren einer vermeintlichen Unschuld bei einem anderen Projektionspaar: Nebeneinander stehen Reproduktionen von Modeanzeigen und pornographischen Magazinen, und die Austauschbarkeit und Ähnlichkeit, die zwischen Marilyn Monroe und ihrem Pendant vermittelte, wird hier als methodische Grundlage von Frauenbildern sichtbar, die auf ihre Stillstellung durch Photographie hin inszeniert werden ("Diaprojektion 4", 2001, Doppelprojektion). "In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. (...) Wo aber der Mensch sich aus der Photographie zurückzieht, da tritt nun erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen"2 Kaum zufällig heissen die Darstellerinnen der Mode- wie der pornographischen Photographie euphemistisch Modelle – Vorbilder, die abgebildet Nachbilder generieren. Die Verschanzung, die Benjamin in der frühen Porträtphotographie erkannte, ist schon längst nicht mehr zugänglich, und der Kult, der zuweilen um Mode- und Pornostars getrieben wird, hat in nichts anderem seine Grundlage als in Ausstellbarkeit ihrer Körper als Projektionsflächen: Namenlose Gesichter mit einem festen ikonographischen Repertoire – volle lächelnde Lippen, gedehnte Hälse, direkte Blicke in die Kamera – ähneln sich maskenhaft an; Körper, die wie ihre eigenen Reproduktionen aussehen, tragen auf der eigenen die Kleidung als zweite Haut zu Markte; Details, die bei der ersten Diaserie Biographie und Geschichte andeuten, werden hier zu inszeniert zufälligen Accessoirs.

Was kann damit noch Photographie heissen? Sicher nicht die Vorstellung von der wahren, der ewigen, der kontextlosen Photographie: Maria Hahnenkamps Arbeiten weisen nach, dass es nicht das Medium ist, das das Aufgenommene objektiviert, still stellt, töte – es ist der Blick, der das Bild nicht als Bild wahrnimmt, um es an die Stelle des Aufgenommenen zu rücken, ein Blick, der Bilder sucht, die widerstandslos von ihrer Materialität absehen lassen, Bilder, die nicht fremd und befremdend zurückblicken. Die Suche nach dem ‚eigentlichen’ Wesen der Photographie kann diesen Blick kaum mehr als reproduzieren und damit scheitern: Sie verhält sich zum Gegenstand ihrer Kritik wie das Negativ zu seinem Abzug, wie das Dia zu seinem leuchtenden Schatten. So unaufdringlich wie nachdrücklich führt Maria Hahnenkamp statt dessen die Photographie auf ihre Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit und damit auf ihre Materialität zurück. Zu jedem ihrer Bilder sind alternative und zusätzliche vorstellbar, und schon dadurch schwindet die der Photographie zugeschriebene, mortifizierende Totalität. An deren Stelle rückt wenigstens die Möglichkeit, Sehen wahrzunehmen als einen Akt, der von Abbildern ausgehend sich selbst Bilder schafft – als Tätigkeit mithin, auf die sich durch die Reflexion ihrer Voraussetzungen wo nicht Zugriff gewinnen, so doch ihre Bedingtheit erkennen lassen kann.

  1. Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1963, S. 21 f.
  2. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften, Band I/2, Frankfurt/M. 1991, S. 445

Friedrich Tietjen

Publiziert in: „Bilder und Nachbilder – Maria Hahnenkamp“, Martin Hochleitner, Bernd Schulz (Hrsg.) Kehrer Verlag Heidelberg, 2002

Friedrich Tietjen, geboren 1966 in Leer, Deutschland; lebt in Wien/Maastricht; Kunsthistoriker, Kritiker, Journalist; Veröffentlichungen zur Theorie und Geschichte der Photographie, des Radio und der Verpackung als Ware; derzeit Researcher an der Jan van Eyck Akademie zur Photographie als wissenschaftlichem Bildmedium im 19. Jahrhundert.

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