Bilder und AbbilderFriedrich Tietjen

Was heisst hier: Photographie? Damit werden die Produkte einer Loch- ebenso bezeichnet wie die einer Digitalkamera, die Projektion eines Dias ebenso wie die in einem Buch abgedruckte Illustration, der technische Vorgang im Allgemeinen ebenso wie ein einzelner Abzug im Besonderen. Doch obwohl sich zwischen dem Begriff und seinen verschiedenen Gegenständen eine eindeutige, definierende Beziehung offensichtlich nicht herstellen lässt, wird Photographie als abrupter Schnitt durch eine kontinuierliche Gegenwart wahrgenommen, der das Abgebildete objektiviert, still stellt, abtötet. Noch die technisch avanciertesten Kameraverschlüsse aber brauchen ihre Zeit; sie können zwar schneller aufnehmen als das menschliche Auge, aber sie erfassen keine infinitesimal kleinen Zeitpunkte, sondern Momente: Zeit ist so teilbar wie Atome es sind. Und mehr noch: Wie ihre Objekte ist auch die Photographie als Medium der Zeit oder genauer: verschiedenen Zeiten unterworfen: Die Zeit der Aufnahme überlagert die Zeiten der Betrachtung, und beide unterliegen ihrerseits so stetig wie unmerklich der Zeit der Zerfälle. Denn nicht allein das photographische Objekt altert, sondern auch seine Abbilder: das Licht, das die Aufnahmen fixieren, löscht über Dekaden seine Spuren, bis die Photographie endgültig entwickelt ist und vom Bild nichts bleibt als sein blanker Träger.

Wie ihre Objekte hat die Photographie so durchaus ihr eigenes Leben, weil sie nicht allein Abbild ist, sondern auch Gegenstand und nicht zuletzt wiederum ihr eigenes Objekt. Sie allein als mortifizierend, als stillgestellt und stillstellend zu fassen ist eine merkwürdig verkürzte Abstraktion. Sie sieht nicht allein von der Materialität der Bilder ab, sondern geht auch stillschweigend davon aus, dass die Photographie in der kurzen Zeit der Aufnahme einen Körper, einen Gegenstand ganz zu erfassen und ihm alles Leben abzuziehen vermag, um es vervielfältigt unbegrenzt zu vermitteln. Allem Wissen um ihre Manipulierbarkeit, um ihre Flüchtigkeit zum Trotz führt diese Annahme zu der Vorstellung, dass die Photographie wahre und ewige Bilder produzieren könne, Bilder, die zeigen, was war und was ist, die sich so weit von ihrer Gegenständlichkeit lösen, dass darüber an Bedeutung zu verlieren scheint: was Photographie heisst.

Für Maria Hahnenkamp heisst Photographie zunächst: Material. Sie reklamiert nicht, Wirklichkeit zu zeigen; sie zeigt, wie die Photographie ihre Wirklichkeit zeigt und erzeugt: als flüchtige und an konkrete materielle Träger gebunden. Sie belässt es jedoch nicht bei einer selbstgenügsamen Reflektion des Mediums, die sich an beliebigen Motiven üben könnte: Abgesehen von einigen Aufnahmen spärlich möblierter Räume wählt sie mit Darstellungen fast ausnahmslos weiblicher Körper ein Sujet, zu dessen Ästhetisierung, Fetischisierung und Typologisierung die Photographie als Medium seit ihrer Erfindung beiträgt. Einzeln gesehen und aus dem Zusammenhang der Ausstellung gerissen könnten alle Aufnahmen damit einheitlich als Abbilder wirken. Eine solche Vereinheitlichung beginnt Maria Hahnenkamp im Kontext der Ausstellung zu stören, indem sie zwei photographische Präsentationsformen für zwei verschiedene Motivgruppen wählt: Von der Künstlerin inszenierte Studioaufnahmen (auf denen sie zuweilen selbst zu sehen, wenn auch nicht zu erkennen ist) werden als mehr oder weniger grossformatige C-Prints gezeigt, während Reproduktionen aus Modezeitschriften, Pornomagazinen, Fotoalben und Kunstbildbänden als Diaprojektionen erscheinen. Damit stehen einander Materialisierungen des Mediums gegenüber, deren unterschiedliche Wertigkeiten und Anwendungen einerseits aufgenommen, andererseits subvertiert werden: Die gerahmten Abzüge kommen der Vorstellung eigenständiger und musealisierbarer Kunstwerke formal nahe, der die Serialisierung der Motive allerdings widerspricht; Diaprojektionen hingegen haben als langsam von Videos verdrängtes Bildmedium abendlicher Urlaubsberichte den Ruch des Banalen – Maria Hahnenkamp verwendet sie, um die bis zur Unsichtbarkeit bekannten Abbilder von Frauenkörpern ein weiteres Mal zu reproduzieren und dadurch als Bilder sichtbar zu machen. Dieser Differenzierung entspricht die Materialität beider Medien: Hat der photographische Abzug noch ein Minimum an haptischer Präsenz, entzieht sich das Dia fast bis zur Unerkennbarkeit: Hält man das kleine gerahmte Stückchen Film in der Hand, ist kaum etwas zu erkennen und jedenfalls keine Details – die zeigen sich erst, wenn es in einen Projektor eingelegt wird. Dieses Geflecht aus medialen, materialen und motivischen Gegensätzen findet wiederum seinen Niederschlag auch in dem, was die Bilder im einzelnen darstellen.

Bei den C-Prints sind das einerseits die zur Bildfläche parallel aufgenommenen Wände karger Räume ("Räume/Wände"), andererseits die Hinterköpfe und zum Teil bildfüllenden Torsi von in intensives Rot gekleideten Frauen ("Eine/Zwei Frauen"). Weder ist der Ort zu identifizieren (Ist es das Atelier Maria Hahnenkamps? Eine halbleere Wohnung?) noch sind es die Personen (Wenn die eine die Künstlerin ist – wer ist die andere?). In beiden Fällen ist das Abgebildete so reduziert, dass der am privaten und journalistischen Gebrauch des Mediums geübte, hier aber von Kommentaren weitgehend allein gelassene Blick auf der Suche nach Wiedererkennbarem ins Leere zu starren droht und sich unwillkürlich an der Oberfläche des Bildträgers wiederfindet: Zwar suggerieren die Raumbilder photographische Tiefe, indem schmale Streifen des Fussbodens sichtbar sind; doch fast über die gesamten Bildebenen der Abzüge breiten sich die parallel dazu aufgenommenen Wände aus, auf denen das Auge vergeblich nach Anhaltspunkten sucht. Die Abbilder der Frauen widerum erscheinen von vornherein merkwürdig flach. Erst ein genauerer Blick erklärt jedoch diesen Eindruck: Druckstellen in der Kleidung und an den Haaren weisen darauf hin, dass die Bilder durch eine Scheibe hindurch aufgenommen wurden. Hier wie dort scheinen sich an der Oberfläche des Papiers das Abgebildete und das Abbildende zu berühren; doch während der projektive Blick auf Photographie gemeinhin dazu neigt, letzteres zugunsten von ersterem zu vernachlässigen, beginnt er hier zu oszillieren, weil die selbstverständliche Gleichsetzung des Mediums mit seinem Gegenstand einfach nicht gelingt.

Steht bei diesen Arbeiten die in sich selbst geschlossene und kontextlose Photographie zur Disposition, wird diese von den Diaprojektionen vollends suspendiert. Auf leeren Wandflächen erscheinen Bilder, um nach wenigen Augenblicken den nächsten Aufnahmen zu weichen. Sichtbar wird darüber die Flüchtigkeit wie auch die Dauerhaftigkeit der Photographie: Sie hält Ephemeres ephemer fest, sie registriert Erscheinungen und Bewegungen, die in ihren spezifischen Konstellationen zwar unwiederholbar vergangen sind, aufgenommen aber vergleichbar und vor dem endgültigen Tod durch Vergessen wenigstens als Abbilder zeitweise gesichert bleiben. "Sah so die Großmutter aus? ... Am Ende ist auf der Fotografie gar nicht (sie) wiedergegeben, sondern ihre Freundin, der sie glich."1 So jedenfalls sah Marilyn Monroe aus, ihr Name untrennbar verknüpft mit dem vor allem durch die Photographie zur Ikone gewordenen Bild einer blonden Frau. Und so sehr alle Aufnahmen verraten, dass die Präsenz der Kamera der Akteurin bewusst ist und sie deswegen posiert, so sind diese gleichzeitig Spuren heute zuweilen nicht mehr vertrauten, sicher aber lesbaren Praxen: Die Moden der 50er und 60er Jahre erfahren heute ihre Aktualisierung in Revivals, manche Gesten aber dürften älter und dauerhafter sein und von der Photographie nicht produziert, wohl aber vermittelt worden sein: Den Aufnahmen Monroes stellt Maria Hahnenkamp die offenbar ungefähr zeitgleich entstandenen Amateurphotographien einer dunkelhaarigen unbekannten Frau gegenüber („Diaprojektion 3“, 2002, überlappende Doppelprojektion). Doch während die Aufnahmen der Schauspielerin unzählbar häufig reproduziert zur Ikone wurden und werden, sind die Bilder von ihrem Gegenüber nur zufällig dem Sperrmüll entkommen. Paarweise zusammengestellt betonen die Dias kontingente und unwillkürliche Übereinstimmungen, von der Zigarette in der mondän abgewinkelten Hand bis zum Muttermal über dem meist lächelnden Mund: die beiden Frauen beginnen sich anzugleichen wie Kracauers Grossmutter ihrer Freundin, ohne dass dabei die eine als Vor-, die andere als Nachbild erscheint, was an einem Bildpaar vollends deutlich wird: Hier ist die Monroe an der Seite einer anderen dunkelhaarigen Schauspielerin, die unbekannte Frau neben einer blonden Freundin so aufgenommen worden, dass die Szenen austauschbar werden. Einander an den Rändern überschneidend gehen die Doppelprojektionen gleichmässig ineinander über, während Einzelprojektionen beiden Frauen den gleichen Status verleihen: als Subjekte und als Objekte der Photographie.

Hat diese Diaserie allem von der Kamera induzierten Posierens zum Trotz noch den Charme des Schnappschusses, verlieren sich die Spuren einer vermeintlichen Unschuld bei einem anderen Projektionspaar: Nebeneinander stehen Reproduktionen von Modeanzeigen und pornographischen Magazinen, und die Austauschbarkeit und Ähnlichkeit, die zwischen Marilyn Monroe und ihrem Pendant vermittelte, wird hier als methodische Grundlage von Frauenbildern sichtbar, die auf ihre Stillstellung durch Photographie hin inszeniert werden ("Diaprojektion 4", 2001, Doppelprojektion). "In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. (...) Wo aber der Mensch sich aus der Photographie zurückzieht, da tritt nun erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen"2 Kaum zufällig heissen die Darstellerinnen der Mode- wie der pornographischen Photographie euphemistisch Modelle – Vorbilder, die abgebildet Nachbilder generieren. Die Verschanzung, die Benjamin in der frühen Porträtphotographie erkannte, ist schon längst nicht mehr zugänglich, und der Kult, der zuweilen um Mode- und Pornostars getrieben wird, hat in nichts anderem seine Grundlage als in Ausstellbarkeit ihrer Körper als Projektionsflächen: Namenlose Gesichter mit einem festen ikonographischen Repertoire – volle lächelnde Lippen, gedehnte Hälse, direkte Blicke in die Kamera – ähneln sich maskenhaft an; Körper, die wie ihre eigenen Reproduktionen aussehen, tragen auf der eigenen die Kleidung als zweite Haut zu Markte; Details, die bei der ersten Diaserie Biographie und Geschichte andeuten, werden hier zu inszeniert zufälligen Accessoirs.

Was kann damit noch Photographie heissen? Sicher nicht die Vorstellung von der wahren, der ewigen, der kontextlosen Photographie: Maria Hahnenkamps Arbeiten weisen nach, dass es nicht das Medium ist, das das Aufgenommene objektiviert, still stellt, töte – es ist der Blick, der das Bild nicht als Bild wahrnimmt, um es an die Stelle des Aufgenommenen zu rücken, ein Blick, der Bilder sucht, die widerstandslos von ihrer Materialität absehen lassen, Bilder, die nicht fremd und befremdend zurückblicken. Die Suche nach dem ‚eigentlichen’ Wesen der Photographie kann diesen Blick kaum mehr als reproduzieren und damit scheitern: Sie verhält sich zum Gegenstand ihrer Kritik wie das Negativ zu seinem Abzug, wie das Dia zu seinem leuchtenden Schatten. So unaufdringlich wie nachdrücklich führt Maria Hahnenkamp statt dessen die Photographie auf ihre Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit und damit auf ihre Materialität zurück. Zu jedem ihrer Bilder sind alternative und zusätzliche vorstellbar, und schon dadurch schwindet die der Photographie zugeschriebene, mortifizierende Totalität. An deren Stelle rückt wenigstens die Möglichkeit, Sehen wahrzunehmen als einen Akt, der von Abbildern ausgehend sich selbst Bilder schafft – als Tätigkeit mithin, auf die sich durch die Reflexion ihrer Voraussetzungen wo nicht Zugriff gewinnen, so doch ihre Bedingtheit erkennen lassen kann.

  1. Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1963, S. 21 f.
  2. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften, Band I/2, Frankfurt/M. 1991, S. 445

Friedrich Tietjen

Publiziert in: „Bilder und Nachbilder – Maria Hahnenkamp“, Martin Hochleitner, Bernd Schulz (Hrsg.) Kehrer Verlag Heidelberg, 2002

Friedrich Tietjen, geboren 1966 in Leer, Deutschland; lebt in Wien/Maastricht; Kunsthistoriker, Kritiker, Journalist; Veröffentlichungen zur Theorie und Geschichte der Photographie, des Radio und der Verpackung als Ware; derzeit Researcher an der Jan van Eyck Akademie zur Photographie als wissenschaftlichem Bildmedium im 19. Jahrhundert.