Ornament. Zum Inhalt des Inhaltslosen Rainer Fuchs

Obwohl das Ornament eine weitgehend von Figuration und Narration entbundene Kunstform ist, verbergen sich in seiner Stil- und Begriffsgeschichte Erzählungen über gesellschaftsgeschichtliche Zustände und Entwicklungen. In den mannigfach verschlungenen oder geometrisch verzahnten Formen sind auch die ideologischen Verstrickungen von Öffentlichem und Privatem, von Gesellschaft und Individuen eingeschrieben, und der vermeintliche Selbstbezug ornamentaler Formen entpuppt sich bei näherer Betrachtung als semantisch höchst brisantes Thema. Die Verwendungsweisen des Ornaments und seine Ausformungen verweisen aufeinander und bilden eine Art Seismogramm kulturell-existentieller Interessen und deren historischer Verschiebungen.

Dieser Geschichtsbezug des scheinbar Geschichtslosen zeigt sich nicht nur in der aktuellen Diskussion über geschlechtliche Rollenbilder in ihrem Verhältnis zum Ornament und zur Mode, sondern er offenbart sich auch im historischen Rückblick. Dabei lässt sich erkennen, wie sehr die zentralen Begriffe und Argumentationslinien für die Beurteilung des Ornamentierens von der Moderne ausgehen. So ist der heutige Ornamentdiskurs durchwegs mit Verweisen auf die Moderne durchsetzt und vom Versuch geprägt, durch Aufarbeitung der Vergangenheit gegenwärtige Interpretationen vor geschichtsblinden Ansätzen zu bewahren. Beispielhaft dafür sind Llewellyn Negrins Ausführungen über das „Ornament and the Feminine“.1 Nach einer Zeit der Ablehnung und Stigmatisierung des Ornaments im Gefolge einer funktionalistisch ausgerichteten Avantgarde, unterzieht diese Autorin ein neuerdings weit verbreitetes Bekenntnis zum Ornament als Synonym für Daseinsbejahung und selbstbewusste Weiblichkeit der historisch-kritischen Betrachtung. Unter Bezugnahme auf Studien wie jene von Norma Broude2, die das Ornament als rein formal-visuelles Phänomen ohne tiefere Bedeutung zu rehabilitieren versuchen, gibt Negrin die gedankliche Nähe dieser Auffassung zu Diffamierungsstrategien des Ornamentalen und Weiblichen in der Moderne zu bedenken: „Zu meinen, dass das Ornament nur mit inhaltslosen Oberflächeneffekten beschäftigt sei, bedeutet seinen Reichtum und Wert als Kommunikationsmedium zu verkürzen. Wenn neuere feministische Fürsprecher des Ornaments den Wert des ‚Unwesentlichen‘ über den des Wesentlichen, Oberfläche über Tiefe, das Sinnliche über das Rationale und Ausschweifung über Zurückhaltung stellen, dann kehren sie die Begriffe dieser modernistischen Dichotomien eher um als sie zu überwinden.“3 Als geeignetstes Mittel gegen die semantische Neutralisierung des Ornaments und die damit verbundene Gefahr der unbeabsichtigten Fortschreibung ahistorisch problematischer Denkweisen schlägt Negrin die Beschäftigung mit der Ornamentgeschichte der Moderne vor, weil die darin widerstreitenden Meinungen genau jene Bedeutungsvielfalt des Ornaments belegen, die dessen klischeehafter Betrachtung als inhaltsfreier Form widersprechen. „Solange das Ornament in dieser Form gesehen wird, trägt seine Verherrlichung als Wiedergeltendmachung des Werts des Weiblichen wenig dazu bei, patriarchale Assoziationen von Weiblichkeit mit einer Welt des Vorrangs des äußeren Anscheins über die Substanz und des Stils über den Inhalt zu untergraben. Eine grundlegendere Herausforderung der modernistischen Kritik des Ornaments verlangt vielmehr nach einer Anerkennung seiner Rolle als Vermittler kultureller Werte und einer kritischen Auseinandersetzung mit den Bedeutungen, die es vormals innehatte, um seine Relevanz für die Gegenwart aufzuzeigen.“4 Worin besteht nun die hier angedeutete kulturelle und ideologische Aussagekraft des Ornaments in der Moderne? Welche Argumente dienten damals zur Legitimierung bzw. Diffamierung des Ornaments und welche Gesellschaftsordnungen und Zivilisationsvorstellungen standen dahinter?

Tatsächlich ging die Verdrängung und Abwertung des Ornaments mit dessen Denunzierung als Zeichen von Rückständigkeit und Primitivität einher, die einem neuen Rationalismus und Funktionalismus im Zuge der Industrialisierung und Kapitalisierung der modernen Gesellschaft im Wege standen. Dabei unterlag auch das Bild der Frau als Synonym des Ornamentalen einer beklemmend irrationalen Beurteilung und Sexualisierung, deren Wortführer sich selbst als Retter des Rationalen darstellten.

Mit Adolf Loos ist die Galionsfigur dieses Denkens benannt, dessen Kritik am Ornament zugleich eine polarisierende Sicht von alter und neuer Welt, von weiblicher und männlicher Identität beinhaltete. Seine Aversion gegen das Ornamentieren, das er als intellektfeindliche, durch keine kulturellen Schranken gehemmte und gefilterte Triebbefriedung betrachtete, gründete auf Sigmund Freuds Auffassung, „daß sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muß“.5 Regression und Degeneration waren für Loos daher die untrüglichen Zeichen ungebremster Ornamentierlust und die Tätowierung des Körpers war für ihn eine Art kriminelles Delikt: „Die tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten. Wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben.“6

Die Verknüpfung des Ornamentalen mit dem triebhaft Unkontrollierten ging bei Loos mit einer atavistisch verächtlichen, auf das Geschlechtliche reduzierten Vorstellung von Weiblichkeit einher: „Das ornament der frau aber entspricht im grunde dem des wilden, es hat erotische bedeutung.“7 Der darin verborgene krude Biologismus, der in Otto Weiningers Schrift „Geschlecht und Charakter“8 kulminierte, prägte noch das von Loos beschriebene Verhältnis von Ornament und Weiblichkeit als Synonymen des Minderwertigen und Rückständigen: „Die kleidung der frau unterscheidet sich äußerlich von der des mannes durch bevorzugung ornamentaler und farbiger wirkungen und durch den langen rock, der die beine vollständig bedeckt. Diese beiden momente zeigen uns, daß die frau in den letzten jahrhunderten stark in der entwicklung zurückgeblieben ist.“9 Loos degradierte die Frau und das Ornament zu retardierten Gegenpolen männlicher Vernunft und Rationalität, die ihm als untrügliche Anzeichen eines neuen gesellschaftlichen Aufbruchs erschienen.

Seine zynische Kritik ist vor dem Hintergrund einer für das Ornament ambivalenten Situation im Fin de Siècle zu sehen: zum einen hatte die Industrialisierung zur maschinellen Massenfertigung von Gebrauchsgütern geführt und damit das Ornament, das bislang Ausweis handwerklicher Produktion und Originalität war, anachronistisch erscheinen lassen, zum anderen aber wurde im Historismus und Jugendstil versucht, die gesamte Lebenswirklichkeit in ein Metaornament zu transformieren. Die im Historismus und seiner Architektur flächendeckend applizierte Fassadenornamentik, die historische Stile zitierte, um – wie die Kritiker anmerkten – ihre eigene Hohlheit zu maskieren, und die Absicht der Jugendstilkünstler, die Wirklichkeit in ein ornamental überformtes Gesamtkunstwerk zu überführen, wo doch der reale Funktionalismus und Rationalismus kapitalistischer Prägung das Leben breiter Massen bestimmte, fanden in Loos ihren radikalsten Kritiker. „Da das ornament nicht mehr organisch mit unserer kultur zusammenhängt, ist es auch nicht mehr der ausdruck unserer kultur. Das ornament, das heute geschaffen wird, hat keinen zusammenhang mit uns, hat überhaupt keine menschlichen zusammenhänge, keinen zusammenhang mit der weltordnung.“10 Loos’ Anstoß am Unzeitgemäßen des Ornaments, war u.a. auf seine Erfahrungen mit den rationellen Produktionsweisen zurückzuführen, wie sie das Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts kennzeichneten. Ornamentieren war für ihn unter diesen neuen Bedingungen gleichbedeutend mit sinnloser Verschwendung materieller und menschlicher Ressourcen: „Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit.“11

Mit dieser Ornamentkritik vertrat er genau jene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, gegen die sich eine gegnerische Phalanx aus Kunsthistorikern und -kritikern formiert hatte, die im Namen des Ornaments gegen die durch den Modernisierungsschub hervorgerufenen Entfremdungs- und Entwurzelungserfahrungen Sturm liefen. Zu Recht bemerkt Michael Müller in seiner Studie über „die Verdrängung des Ornaments“, dass „die Diskriminierung der Ornamente (...) in eine Zeit (fällt), in der die Ornamentik die Zweckrationalität bürgerlichen Handelns (...) in Frage zu stellen beginnt“.12 In diesem Zusammenhang gab das Ornament ein idealisiertes Gegenbild zur industriell bestimmten Wirtschafts- und Lebensform ab, von deren Gegnerschaft es aber auch profitierte: „In dem Augenblick, als das Ornament aufgrund seiner vielfachen formalästhetisch-maschinellen Reproduktion seiner ursprünglichen repräsentativen Inhalte entleert worden war, entdeckte man es – nunmehr freigesetzt – als hervorragendes Darstellungsmittel individueller Phantasien, Mythologien, Tagträume und unverschlüsselter Sinnlichkeit.“13 So erschien das einerseits durch den Vorwurf der Triebhaftigkeit moralisch demontierte Ornament andererseits – ins Positive verkehrt – als „Symbol einer in ihren Triebansprüchen bedrohten und bedrohlich disziplinierten Individualität“.14

An diesem Strang der Ornamentgeschichte flochten vor allem die stilpsychologisch orientierten Kunsthistoriker, deren herausragende Proponenten Alois Riegl und Wilhelm Worringer waren. Riegl legte 1893 unter dem Titel „Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik“15 ein wegweisendes Buch vor, das dazu gedacht war, die Geschichte des Pflanzenornaments vom Ägyptischen bis zum Byzantinischen und Frühsarazenischen als einheitliche Entwicklung von unausweichlicher geschichtlicher Logik darzustellen. Damit richtete es sich gegen die damals bestimmende Ableitung der Kunstentwicklung aus unmittelbar technisch materiellen Voraussetzungen, wie sie im Umfeld Gottfried Sempers popularisiert wurde, und die, so Riegl, „das Vorurtheil von der angeblichen Geschichtslosigkeit“16 der Stile mit sich brachte. Um diesen Materialismus zu bekämpfen und den Geschichtsbezug der Kunstentwicklung offen zu legen, wurden die Kunstwerke bzw. die Ornamententwicklung als Resultate eines „bestimmten Kunstwollens“ begriffen, das als „ein immanenter künstlerischer Trieb (…) im Menschen rege und nach Durchbruch ringend vorhanden war ...“17, der „von Anbeginn unablässig darauf gerichtet (erscheint), die technischen Schranken zu brechen“.18 Riegl sah die leitenden Gesetze am reinsten und unmittelbarsten im Ornament am Werk, weil dieses „inhaltslos“ und daher von subjektiven Künstlerlaunen unberührt sei. Sein Geschichtsbegriff war jedoch einer Stilentwicklung verpflichtet, die an die Stelle eines technologiegläubigen Determinismus eine psychologisierende Teleologie setzte. Dass die in Riegls Entwicklungslogik beschlossene „eiserne Naturnothwendigkeit“19 das „frei schöpferische Kunstwollen“20 „gründlicher als alle Ableitung aus Technik, Material und Zweck (vernichtet)“21, gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen seines Denkens.

Nur im Rahmen einer Formalästhetik, die dem Inhaltlichen den Kunstwert absprach, konnte das zur selbstgefälligen Form stilisierte Ornament diese Bedeutung als zentraler Indikator der Stilgeschichte erlangen. Denn für Riegl war „der ikonographische Inhalt (...) durchaus verschieden von dem künstlerischen; der (auf Erweckung bestimmter Vorstellungen gerichtete) Zweck, dem der erstere dient, ist ein äußerer gleich dem Gebrauchzwecke (...), während der eigentliche Kunstzweck lediglich darauf gerichtet ist, die Dinge in Umriß und Farbe, in Ebene oder Raum derart darzustellen, daß sie das erlösende Wohlgefallen des Beschauers erregen“.22 Den augenfälligen Widerspruch, dass gerade das solcherart ikonologisch abgeschirmte Ornament meist dort zu finden ist, wo der Gebrauchszweck und die soziokulturellen Komponenten von Kunst im Vordergrund stehen, übersah Riegl. Seine Argumentation, dass „alle (...) nichtkünstlerischen Kulturgebiete unablässig in die Kunstgeschichte hinein(spielen)“23 bzw. dass „die bildende Kunst zwar nicht durch die jeweilige gleichzeitige Weltanschauung determiniert ist, wohl aber mit ihr schlechtweg parallel läuft“24, bedeutete zumindest die theoretische Anerkennung gesellschaftsgeschichtlicher Einflüsse auf das Kunstgeschehen und auf das Ornament als Teil eines gesamtkulturellen, weltanschaulichen „Wollens“.

Aufbauend auf Riegls Terminus des Kunstwollens, als einer stets positiv gerichteten Aktivität, welche die Vorstellung von Verfallsepochen, wie sie noch Johann Joachim Winckelmanns normative Ästhetik kennzeichnete, ausschloss, entwarf Wilhelm Worringer in seinen Publikationen „Abstraktion und Einfühlung“ (1908)25 und „Formprobleme der Gotik“ (1910)26 ein Bild der Kunstgeschichte, in dessen Rahmen das geometrische Ornament der Befreiung von Daseinsängsten diente: „Von der Willkür und Zusammenhangslosigkeit der Erscheinungen verwirrt, lebt der primitive Mensch in einem dumpfen geistigen Furchtverhältnis zur Außenwelt, das erst langsam durch die wachsende geistige Auseinandersetzung mit ihr gelockert wurde (...).“27 „Künstlerisch schaffen heißt für ihn, dem Leben und seiner Willkür ausweichen (...). Von der starren Linie in ihrer abstrakten Wesenheit geht er aus (...). Er geht den weiteren geometrischen Möglichkeiten der Linie nach, schafft Dreiecke, Quadrate, Kreise, reiht Gleichheiten aneinander, entdeckt den Gewinn der Regelmäßigkeit, kurz, schafft eine primitive Ornamentik, die ihm nicht bloße Schmuckfreude und Spiel, sondern eine Tafel symbolischer Notwendigkeitswerte und deshalb Beschwichtigung starker seelischer Notzustände ist. (...) ja in erster Linie sich selbst sucht er durch ornamentale Tätowierung tabu zu machen.“28 Ornament und Abstraktion gewannen bei Worringer existenzielle Dimensionen, in ihnen spitzte sich das Kunstwollen zu einem Ornamentierenmüssen zu. Um die körperliche Existenz und das nackte Leben zu retten, besetzte demnach das Ornament in Form der Tätowierung diese Körper selbst. Worringer verkürzte das menschliche Schmuckbedürfnis auf ein reines Schutzbedürfnis. Der Abstraktionsdrang als Zwang, „Symbole des Notwendigen in geometrischen oder stereometrischen Gebilden (zu schaffen)“29 bzw. „ein festes Jenseits der Erscheinung anschaulich zu fixieren, in dem ihre Willkür und Wandelbarkeit überwunden ist“30, meint nicht so sehr eine ohnehin nicht authentisch rekonstruierbare primitive Psyche, sondern erwies sich als ein aus der zeitgenössischen Psychologie und Soziologie abgeleiteter Begriff, der auf Vergangenes projiziert wurde.

Darin manifestierte sich der weit verbreitete zeitgenössische Kulturpessimismus und die ihn charakterisierende Verunsicherung und Entfremdung, die durch Industrialisierung und Technologisierung hervorgerufen wurden. Mit der Verklärung wilder und primitiver Völker versuchte man dem zu begegnen. Am pointiertesten, aber auch in nicht zu überbietender Simplifizierung wurde diese Zivilisationskritik von Hermann Bahr vorgetragen: „Die bürgerliche Herrschaft hat aus uns Wilde gemacht (...) wir selber alle, um die Zukunft der Menschheit vor ihr zu retten, müssen Barbaren sein. Wie der Urmensch sich aus Furcht vor der Natur in sich verkriecht, so flüchten wir uns vor einer ‚Zivilisation’ zurück, die die Seele des Menschen verschlingt.“31

Neben der polarisierenden Sicht auf das Ornament – entwertetes Relikt vergangener Zeiten oder neu beseelter Rettungsanker angesichts des funktionalistischen Kahlschlags – gab es mit dem von Siegfried Kracauer geprägten Schlagwort des „Ornaments der Masse“ eine weitere Begriffsbestimmung. Darin erschien die gesellschaftliche Masse als kapitalistisches Kollektiv, wobei die Form des Ornaments im Gesellschaftskörper bzw. in der strukturellen Ausrichtung seiner Repräsentanten als individuelle Körper aufgespürt und analysiert wurde. Kracauer interessierte nicht das Ornament am Körper, sondern der Körper selbst als ornamentales Versatzstück, das in sich die gesellschaftliche Gleichschaltung durch neue Arbeitsformen marionettenhaft widerspiegelte und damit einen „ästhetischen Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität“32 darstellte. Dass auch diese Form des Ornaments ein massenkulturelles Phänomen war, erläuterte Kracauer anhand der Tanztruppe der Tiller Girls, in deren ornamental gleichförmigen Körperbewegungen er ein unverschleiertes Piktogramm der im Produktionsbereich und dessen Rationalisierungsprozessen wirksamen, uniformen und automatisierten Abläufe erkannte. „Auf dem Gebiet der Körperkultur (...) ist in der Stille ein Geschmackswandel vor sich gegangen. Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind.“33 Nicht als Antipoden kapitalistischer Rationalität und Funktionalität wie bei Loos, sondern als deren ornamentalen Ausdruck sah also Kracauer die Rolle der Frau im Zuge der Industrialisierung und ihrer gesellschaftlichen Folgen.

Jene Ornamente, die auf Massenprodukte appliziert wurden, um deren Anonymität zu kaschieren, gründen, ebenso wie das von Kracauer beschriebene Ornament der anonymisierten Masse, auf „eine(r) von Profitinteressen bestimmte(n) Industrie“,34 wie Michael Müller festhält: „Versucht die erstere Ornamentform noch den optischen Eindruck der mit ihr verbundenen Ware zu individuieren und damit die Tatsache der Masse zu verharmlosen, so appelliert das Massenornament an ein Bild von gesellschaftlicher Totalität, das die Menschen als das erscheinen lässt, was sie unter den gewandelten Produktionsverhältnissen wirklich sind: ‚Bruchteile einer Figur‘.“35

Kracauers Situationsbeschreibung erhielt in den ornamentalen Masseninszenierungen des Faschismus eine negative Umwertung und Zuspitzung, so als ob es nur eines Schrittes von der ornamentalen Instrumentalisierung der Massen zu deren totalitärer Vereinnahmung unter volkstumsideologischen und rassistischen Prämissen bedurft hätte. Im Aufgehen des Einzelnen in der ornamentalen Umklammerung des Hakenkreuzes bei den inszenierten Volksaufmärschen der Nazis verschwanden die Körper nicht nur im Ornament und unter seiner Patronanz, sondern sie verwiesen implizit auch auf das Verschwinden der anderen, auf die Verbrechen, auf den Genozid und die physische Vernichtung. In den als „artfremd“ denunzierten Körpern manifestierte sich die perfideste Art der Selbststilisierung. Das Sich-Einschreiben in die Körper der anderen als Vernichtungstechnik gipfelte in jenen Tätowierungen, mit denen die KZ-Häftlinge gebrandmarkt und buchstäblich abgestempelt wurden. Die Tätowierung, in der Worringer noch ein Zeichen des Schutzes der Primitiven vor existentiellen Gefahren ausmachte und in der Loos noch einen selbsterniedrigenden Ausdruck von Degeneration und Regression am Werk sah, war in den Konzentrationslagern untrügliches Zeichen der Schutzlosigkeit vor einer vollends degenerierten Gesellschaft, die noch hinter jeden Primitivismus zurückfiel.

Aber auch die Betrachtung des Ornaments als Mittel der Befreiung vor gesellschaftlicher Entfremdung und Rationalisierung war nicht frei von ideologischer Selbsterhöhung und rassistischem Überlegenheitsdünkel. Bereits bei Worringer wurde das Germanische zur Grundlage einer rassistisch unterfütterten Kunstwissenschaft, die „die unendliche Bewegtheit der nordischen Ornamentik“ 36 und die formale Dynamik der gotischen Architektur als Ausdruck ein und desselben arischen Kunstwollens pries. So behauptete Worringer, dass die „Gotik nur da eintritt, wo germanisches Blut sich mit dem Blute der anderen europäischen Rassen mischt. Die Germanen sind also nicht die alleinigen Träger der Gotik (...) wohl aber sind die Germanen die conditio sine qua non der Gotik“.37 Geschichtsverdrehungen dieser Art waren bereits zu Jahrhundertbeginn groß in Mode. Sie verstärkten sich im Zuge des ersten Weltkriegs und der damit verbundenen nationalistischen und chauvinistischen Hetzpropaganda gegen alles Romanische und Fremdländische, um dann unter den Nazis zu kulminieren.

Die in sich widersprüchliche Auffassung, dass die Abstraktheit der Ornamente ihre Entbindung von narrativen Aufgaben und konkreten Inhalten bestätige und sie gerade dadurch zu Motiven weltanschaulicher und geschichtlicher Referenzen prädestiniere, prägte seit Riegl den Ornamentdiskurs. Die bei ihm diagnostizierte „Inhaltslosigkeit“ des Ornaments fand bei Georg Lukács im Begriff der „Weltlosigkeit“ ihre Fortsetzung: „Die Ornamentik ist eben darum weltlos, weil sie die Gegenständlichkeit und die Zusammenhänge der realen Welt bewusst ignoriert, weil sie an ihre Stelle abstrakte Verknüpfungen vorwiegend geometrischer Art setzt.“38 Aufgrund der Abstraktion sprach Lukács dem Ornament jene „Tiefe“39 ab, an der sich seiner Meinung nach die Fähigkeit des Kunstwerks bemisst, realgesellschaftliche Spannungen zu thematisieren. Geometrische Ornamente spiegelten für ihn Wirklichkeit in stilisierter, idealisierter, also ornamentalisierter Form wider und waren „an nicht völlig gestaltete Gesellschaftszustände gebunden“ 40, d.h. an „primitive“ Völker. So vermittelte das Ornament trotz seiner Abstraktheit gesellschaftliche Bedeutung und besaß damit auch einen Inhalt, den Lukács allerdings von einem „gegenständlichen Inhalt“ unterschied: „Daß es (das Ornament) keinen konkreten gegenständlichen Inhalt hat, sondern den eines bloß Abstrakten überhaupt, bringt nur einen äußerst spezialisierten Charakter des Inhalts zustande, nicht aber sein vollständiges Fehlen.“41 Mit dieser Begriffsspalterei, die einer verfänglichen, materialistischen Analogie von künstlerischer Form und gesellschaftlichem Zustand entsprang, stutzte Lukács die Ornamentgeschichte didaktisch zurecht. Er tat dies auch, indem er den Primitiven in verklärender Weise noch eine „Einheit der menschlichen Fähigkeiten“42 attestierte, die ihm offensichtlich in modernen Gesellschaften verloren gegangen schien. Damit marginalisierte er das Ornament innerhalb entwickelter Gesellschaften, weil es sich einer auf das darstellerisch Illustrative konzentrierten materialistischen Widerspiegelungstheorie der Kunst verweigerte bzw. weil es als Signet und Relikt feudalbürgerlicher Kultur belastet war. So verbarg sich gerade in der von Lukács formulierten „Weltlosigkeit“ des Ornaments ein zutiefst weltliches Interpretationsschema, das aus eigengeschichtlichen Interessen das Ornament als geschichtsmächtiges Motiv auf die Vorgeschichte menschlicher Zivilisation beschränkt wissen wollte.

Das Ornament und sein unterschiedlich definierter Begriff waren – wie der kurze geschichtliche Abriss zeigt – Gegenstand einer kämpferisch geprägten Auseinandersetzung. Diese Kontroverse ist mit der Moderne nicht zu Ende gegangen, sie setzt sich – wie eingangs angedeutet – unter anderen gesellschaftlichen und begrifflichen Vorzeichen in den genderbezogenen Diskursen über das Verhältnis von Ornament und Weiblichkeit, Mode und geschlechtlicher Identität fort. Die Auffassungsunterschiede spiegeln aber auch die ambivalente Bedeutung ornamentaler Strukturen wider, die in sich Widersprüchliches vereinen. Denn die scheinbar spielerisch freien Formen geometrischer oder vegetabilfloraler Ornamentmotive sind meist standardisierte und genormte Muster, die, während sie Körper und Gegenstände schmücken, zugleich auch einschränkende Ideale und Normen repräsentieren. Als ästhetisierende, feierliche und rituelle Überformungen von öffentlicher Relevanz bedingen sie auch die Disziplinierung und Relativierung des Einzelnen und Privaten, und als Zeichen der Distinktion, die gesellschaftlichen Gruppen und Kollektiven zur Selbstbestimmung und Abgrenzung dienen, grenzen sie andere nach wie vor aus. Dass Schönheit ihren Preis hat, zeigt sich also sowohl in der Verwendung des Ornamentalen wie auch im Streit seiner Interpreten.

  1. Llewellyn Negrin: Ornament and the Feminine, in: L. Negrin: Appearance and Identity. Fashioning the Body in Postmodernity, Palgrave Macmillan, New York 2008, S. 117–138
  2. siehe: Norma Broude: Miriam Shapiro and “Femmage”. Reflections on the Conflict Between Decoration and Abstraction in Twentieth Century Art, in: Feminism and Art History: Questioning the Litany (Hrsg. Norma Broude und Mary D. Garrard), Harper & Row, New York 1982, S. 315–329
  3. Llewellyn Negrin: Ornament and the Feminine, vgl. Anm. 1, S. 118
  4. Ebda., S. 136/137
  5. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. XIV, ​Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1927, S. 291
  6. Adolf Loos: Ornament und verbrechen (1908), in: Sämtliche Schriften in zwei Bänden (Hrsg. Franz Glück), 1. Band, Verlag Herold, Wien/München 1962, S. 276–288, S. 276
  7. Adolf Loos: Ornament und Erziehung (1924), in: Sämtliche Schriften, vgl. Anm. 6, S. 391–398, S. 396
  8. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine principielle Untersuchung, Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1903
  9. Adolf Loos: Damenmode (1898), in: Sämtliche Schriften, vgl. Anm. 6, S. 157–164, S. 161
  10. Adolf Loos: Ornament und verbrechen (1908), in: Sämtliche Schriften, vgl. Anm. 6, S. 283
  11. Ebda., S. 282
  12. Michael Müller: Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 95
  13. Ebda., S. 19
  14. Ebda., S. 20
  15. Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Verlag Georg Siemens, Berlin 1893
  16. Ebda., S. X
  17. Ebda., S. 20
  18. Ebda., S. 29
  19. Ebda., S. 21
  20. Ebda., S. VII
  21. Lorenz Dittmann: Stil, Symbol, Struktur. Studien zu Kategorien der Kunstgeschichte, Wilhelm Fink Verlag, München 1967, S. 22
  22. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie (1901), hier zitiert nach: Neuausgabe, Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2000, S. 229
  23. Alois Riegl: Gesammelte Aufsätze, Dr. Benno Filser Verlag, Augsburg/Wien 1929, S. 64
  24. Ebda., S. 63
  25. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Piper, München 1908
  26. Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik, Piper, München 1911
  27. Ebda., S. 14
  28. Ebda., S. 16
  29. Ebda.
  30. Ebda.
  31. Hermann Bahr: Expressionismus, Delphin Verlag, München 1916, S. 128
  32. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, in: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 50–63, S. 54
  33. Ebda., S. 50
  34. Michael Müller: Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis, vgl. Anm. 12, S. 92
  35. Ebda., S. 22
  36. Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik, vgl. Anm. 26, S. 37
  37. Ebda., S. 29
  38. Georg Lukács: Ästhetik, Teil 1: Die Eigenart des Ästhetischen, (Werke 11), Luchterhand, Neuwied/Berlin 1963, 1. Halbband S. 313
  39. Ebda., S. 336
  40. Ebda., 2. Halbband, S. 435
  41. Ebda., 1. Halbband S. 332
  42. Ebda., S. 344

Publiziert in: „Maria Hahnenkamp“ , Salzburger Kunstverein (Hrsg.), Schlebrügge.Editor, Wien 2008

Rainer Fuchs – Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Graz und Wien. Stellvertretender Direktor und Ausstellungsleiter am MUMOK. Ausstellungen u.a.: Exhibition 1994, Self Construction 1996, Felix Gonzalez-Torres 1998, Lois Weinberger 1999, John Baldessari 2005, Dan Flavin 2012. Arbeitsschwerpunkte: Begriffs- und Rezeptionsgeschichte des Expressionismus und der klassischen Moderne, sprachanalytische und konzeptuelle Kunstrichtungen seit den 1960er Jahren, Publikationen zur Moderne und Gegenwartskunst.